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Zur Reproduzierbarkeit als Voraussetzung nach Art. 54 Abs. 2 EPÜ – Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des EPA vom 02.07.2025 – G 1/23

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (Große Beschwerdekammer) hat am 02.07.2025 die langersehnte Entscheidung in der Sache G 1/23 getroffen.

Hierbei ging es um die Frage, inwieweit ein öffentlich verfügbares Produkt durch die Fachperson reproduzierbar sein muss, um zum Stand der Technik nach Art. 54 Abs. 2 EPÜ zu gehören.

I. Sachverhalt und Fragestellung

Gegenstand des Einspruchsverfahrens war ein Patent, das die technische Lehre zur Verkapselung von Solarzellen schützt. Die Einsprechende sah ein kommerziell verfügbares Polymer als neuheitsschädlich an. Zwischen den Parteien war unstreitig, dass das genaue Herstellungsverfahren nicht allgemein bekannt war. Die Einsprechende argumentierte daher, dass die Fachperson im Stande sei, ein dem verfügbaren Produkt ähnliches Polymer herzustellen. Eine exakte Reproduzierbarkeit könne rechtlich aber nicht verlangt werden. Während die Einspruchsabteilung den Einspruch abwies, legte die Beschwerdekammer der Großen Beschwerdekammer die drei folgenden Fragen vor:

  1. Is a product put on the market before the date of filing of a European patent application to be excluded from the state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC for the sole reason that its composition or internal structure could not be analysed and reproduced without undue burden by the skilled person before that date?
  2. If the answer to question 1 is no, is technical information about said product which was made available to the public before the filing date (e.g. by publication of technical brochure, non-patent or patent literature) state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC, irrespective of whether the composition or internal structure of the product could be analysed and reproduced without undue burden by the skilled person before that date.
  3. If the answer to question 1 is yes or the answer to question 2 is no, which criteria are to be applied in order to determine whether or not the composition or internal structure of the product could be analysed and reproduced without undue burden within the meaning of opinion G 1/92?

Auf Deutsch:

  1. Ist ein Erzeugnis, das vor dem Tag der Einreichung einer europäischen Patentanmeldung in den Verkehr gebracht wurde, allein deshalb aus dem Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau von der Fachperson vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
  2. Falls die Antwort auf Frage 1 „nein“ lautet: Sind technische Informationen über das genannte Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung einer technischen Broschüre, Nicht-Patent- oder Patentliteratur), Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses vor diesem Tag von der Fachperson ohne unzumutbare Belastung analysiert und reproduziert werden konnte?
  3. Falls Frage 1 bejaht oder Frage 2 verneint wird, welche Kriterien sind dann anzuwenden, um festzustellen, ob die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Erzeugnisses ohne unzumutbaren Aufwand im Sinne der Stellungnahme G 1/92 analysiert und reproduziert werden konnte oder nicht?

II. Erwägungen der Großen Beschwerdekammer

Die Große Beschwerdekammer befasste sich in diesem Zuge nochmals vertieft mit einer Entscheidung aus dem Jahre 1992 (G 1/92). Hier hatte die Große Beschwerdekammer noch entschieden, dass

“The chemical composition of a product is state of the art when the product as such is available to the public and can be analysed and reproduced by the skilled person irrespective of whether or not particular reasons can be identified for analysing the composition.”

Auf Deutsch:

„Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses entspricht dem Stand der Technik, wenn das Erzeugnis als solches der Öffentlichkeit zugänglich ist und von der Fachperson analysiert und reproduziert werden kann, unabhängig davon, ob besondere Gründe für die Analyse der Zusammensetzung erkennbar sind oder nicht.“

Die Große Beschwerdekammer beobachtete hierbei, dass die Vorlagefrage für die G 1/92-Entscheidung keinen Hinweis auf eine irgendwie geartete Reproduzierbarkeit enthielt. Sie lautete:

Is the chemical composition of a product made available to the public by virtue of the availability to the public of that product, irrespective of whether particular reasons can be identify led to cause the skilled person to analyse the composition?

Auf Deutsch:

“Wird die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit dadurch zugänglich gemacht, dass dieses Erzeugnis der Öffentlichkeit zur Verfügung steht, unabhängig davon, ob besondere Gründe erkennbar sind, die den Fachmann veranlassen, die Zusammensetzung zu analysieren?”

Die Große Beschwerdekammer ging daher zunächst der Frage nach, ob das Merkmal der Reproduzierbarkeit unterschiedlich zu bewerten sei, je nachdem ob man die Reproduzierbarkeit der chemischen Zusammensetzung oder des gesamten Erzeugnisses betrachtete. Die Große Beschwerdekammer kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzung der Reproduzierbarkeit in beiden Auslegungsvarianten nicht (mehr) haltbar sei.

Das Kriterium der Reproduzierbarkeit schaffe eine rechtliche Fiktion, nach der ein tatsächlich frei verfügbares Produkt für die Fachperson nicht existent sei. Dies widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung. Überdies müssten Ausnahmen restriktiv gehandhabt werden und gesetzlich normiert sein. Vorliegend sei aus dem Gesetz nicht ersichtlich, wieso öffentliche Produkte anders behandelt werden sollten als druckschriftlicher Stand der Technik, der – im Gegensatz zu Patentanmeldungen – auch nicht auf seine Ausführbarkeit überprüft werde.

Außerdem würde die Voraussetzung der Reproduzierbarkeit dazu führen, dass auch die Vorprodukte des potenziell neuheitsschädlichen Produkts reproduzierbar sein müssten, da sich die Fachperson für die Frage der Reproduzierbarkeit ebenfalls nur dem Stand der Technik bedienen könnte. Dies würde dazu führen, dass die Fachperson sich nicht nur bestens mit der vertikalen Vertriebskette auskennen müsse, sondern letztlich in der Lage sein müsse, sämtliche Vorprodukte zu reproduzieren, also im Extremfall angefangen auf Atom- und Molekülebene. Die Große Beschwerdekammer verwies beispielhaft auf Rohöl, das Vorprodukt unzähliger Anwendungen sei und dennoch bis heute nicht reproduziert werden könne. Dieses Beispiel zeige, dass die Voraussetzung der Reproduzierbarkeit zu unsachgemäßen Ergebnissen führe.

Die Große Beschwerdekammer unterstrich dabei, dass es zwar theoretisch möglich sei, eine Trennlinie in der Vertriebskette zu ziehen, dies aber angesichts der Vielzahl an technischen Bereichen nicht zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen könne.

Daher müsse die Voraussetzung der Reproduzierbarkeit entfallen.

Da damit bereits der zweite Teil des kumulativen Erfordernisses der Vorlagefrage entfiel („analysed and reproduced without undue burden“) kam es nicht mehr darauf an, ob das undue burden Erfordernis auch bei der Analysierbarkeit greife. Die Große Beschwerdekammer ließ zwar anklingen, dass es durchaus Fälle geben könne, in denen die Analysierbarkeit eine unzumutbare Belastung bedeute, ließ dabei aber offen, ob dies Auswirkungen auf die Frage habe, ob ein Produkt zum Stand der Technik gehört oder nicht.

III. Beantwortungen der Vorlagefragen

In der Folge hat die Große Beschwerdekammer die erste Vorlagefrage wie folgt (negativ) beantwortet:

„A product put on the market before the date of filing of a European patent application cannot be excluded from the state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC for the sole reason that its composition or internal structure could not be analysed and reproduced by the skilled person before that date.“

Auf Deutsch:

„Ein Erzeugnis, das vor dem Tag der Einreichung einer europäischen Patentanmeldung in den Verkehr gebracht wurde, kann nicht allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ausgeschlossen werden, weil seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau vom Fachmann vor diesem Tag nicht analysiert und wiedergegeben werden konnte.“

Die zweite Vorlagefrage beantwortet die Große Beschwerdekammer folgerichtig mit „ja“ und führte aus:

„Technical information about such a product which was made available to the public before the filing date forms part of the state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC, irrespective of whether the skilled person could analyse and reproduce the product and its composition or internal structure before that date.“

Auf Deutsch:

„Technische Informationen über ein solches Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden, gehören zum Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob der Fachmann das Erzeugnis und seine Zusammensetzung oder seinen inneren Aufbau vor diesem Tag analysieren und reproduzieren konnte.“

Da die dritte Vorlagefrage verlangte, dass entweder die erste Frage mit ja oder die zweite mit nein beantwortet worden wäre, ließ die Große Beschwerdekammer diese offen.

IV. Einschätzung

Die Fachperson muss ein Produkt nicht länger reproduzieren können, damit dies zum Stand der Technik gehört. Die Analysierbarkeit ist ausreichend. Dies erhöht die Rechtssicherheit für Dritte. Die Voraussetzungen sind für alle technischen Gebiete identisch und unabhängig von Einzelheiten des konkreten Sachverhalts. Die Große Beschwerdekammer hat sich damit für eine Alles-oder-Nichts-Lösung entschieden und möchte hierdurch Widersprüche vermeiden. Dies gelingt. Auf der anderen Seite schränkt die Entscheidung so die Position von Patentinhabern in Einspruchs- und Beschwerdeverfahren massiv ein. Die Zukunft wird zeigen, ob nicht doch ein differenzierterer Ansatz erforderlich ist.

Nationale Gerichte verfolgen bisher überwiegend einen restriktiveren Ansatz, auf den auch die AIPPI in ihrem amicus curiae Brief hingewiesen hat.

Im Europäischen Kontext bleibt vor allem abzuwarten, welchen Kurs das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts wählen wird, das sich in der Vergangenheit aufgeschlossen gegenüber EPA-Rechtsprechung gezeigt hat, da diese naturgemäß einen europäisch harmonisierten Ansatz liefert als Entscheidungen nationaler Gerichte.

Robert Knaps